Die Modelle von Benjamin Dillenburger erinnern unmittelbar an die Hängestrukturen, die wir von Gaudi kennen. Bei einem zweiten Blick jedoch zeigt sich eine Irritation: Verglichen mit der Natur-Ästhetik, die mit Gaudi assoziiert wird, stellen Dillenburger‘s Modelle sich in einer „unnötig“ differenzierten Gestalt dar – unnötig deshalb, weil Gaudis Hängemodelle als Inbegriff für eine Art „natürlicher Konstruktion“ gelten. Ihre Konstruktion besteht aus einem Arrangement von Minimalflächen, welches ohne Zug- oder Scherkräfte auskommt, und sich nur über Druck selbst zu stabilisieren vermag. Sie gelten deswegen als „organische“ Konstruktionen, die weitestgehend „unmittelbar“ eine natürliche Struktur darstellen. Sie kommen mit einem minimalen Ausdruck an Ingenieurs-List und aktiver Gestaltung aus. Ihre „natürliche“ Schönheit beziehen sie genau daraus, dass die Intellektualität, die im Umgang mit den Zahlenfolgen und den so gerechneten Zusammenhänge steckt, der Form nach weitgehend transparent bleibt. In dieser Transparenz unterscheiden sich solche Strukturen deutlich von der formalen „Sachlichkeit“ industrieller, moderner Architektur und ihren klaren Statements. Im aktuellen Diskurs um digitale Entwurfsmethoden wird Gaudi – aufgrund der stringenten Analytik, welche hinter seinen Gebilden steckt – oft als Pionier avant la machine (lettre) erachtet. Es liegt in dieser Neutralisierung von Form-Fragen allem Anschein nach ein besonderes Faszinosum für eine Theorie des computer-gestützten Gestaltens. Ich möchte nun in Dillenburgers Modellen aber keine „verzierte Natürlichkeit“ sehen, sondern das Artikulieren von Strukturen.
Zweifellos regt der Computer zu einem veränderten Verständnis von Formalität an. Beim Manipulieren von formalen Symbolen im Computer ist, auf die Architektur bezogen, dem Konstruieren mit geometrischen Formen ein Formulieren symbolischer Regelwerke vorgelagert, an der sich dieses Konstruieren dann orientiert. Nun geht konstruktives Denken traditionellerweise von einem finiten Satz (geometrischer) Elementen aus, die in unterschiedliche Konstellationen gebracht oder ineinander transformiert werden können. Im konstruktiven Denken kommt einem Satz elementarer Glieder gewöhnlich eine Priorität hinsichtlich dessen zu, was man mit ihnen tun kann. Diese Priorität wird im Computer relativiert. Die Regelwerke bestehen nicht mehr vordringlich in Systematiken wie Check-Listen und methodischen Rezepten, sondern sie justieren sich vielfältig komponierbar in Syntaxen und Grammatiken. Es entsteht daraus eine Plastizität, die man auch als eine Art Kurzschluss zwischen Sprache und Zahl, zwischen logischen Ausdrücken und rechenbaren Zusammenhängen begreifen kann. Durch diese Plastizität wird der Form nach eine infinitesimale Vielzahl an unterschiedlich gewichtbaren und assozierbaren Ausdrücken der Konstruktionen möglich. Dieses Ausdrucksspektrum birgt einige Verwandtschaften zum Ausdrucksspektrum der figürlichen Sprache. Hier kennen wir eine Dimension des rhetorischen Gliederns der Rede als Artikuliertheit (articulare, lat. für „separating into joints“). Über sie lässt sich der geschlossene Satz möglicher Elemente und Ausgangslagen auf eine Offenheit im Ausdruck hin erschliessen. So betrachtet kann das Spiel mit der ästhetisch-affektiven Kraft von Dillenburger‘s Modellen – gerade in der „unnötigen“ Differenziertheit ihrer Gestalt (gegenüber Gaudi‘s Naturalismus als Referenz) – als ein architektonisches Artikulieren erachtet werden.
Denn das wirklich Interessante an Dillenburgers Gebilden, nämlich dass er sie in die Constraints von Hängemodellen als ein arbiträr gewähltes Referenzsystem hinein rendert, zeigt sich in dem Gestaltungsraum, der sich über das Rendern eröffnet. Er hat eine Shape Grammar entwickelt, welche die Analytik der Hängestrukturen abzubilden vermag. Verallgemeinert gesprochen gilt, dass zum Gewinnen eines solchen Regelwerkes eine beliebige shape (es muss keine geometrisch elementare Form sein, deswegen behalte ich die englische Rede von shapes bei) verwendet und als eine geometrische Stammfunktion (engl. Primitive) erachtet, formalisiert und codiert werden kann. Eine Ausgangsgestalt als Stammfunktion zu betrachten heisst, sie nicht in geometrische Elemente und deren konstruktives Zusammenspiel aufzudröseln, sondern die Ausgangsgestalt als analytischen Grenzwert zu handhaben, als eine Art prä-spezifisches Schema für infinitesimales Verfeinern und Differenzieren. Über solches Verfeinern und Differenzieren lässt sich der Infinitesimalraum der Ausgangsfläche analytisch ausloten und stratifizieren. Es lassen sich bei diesem Stratifizieren symbolische Elemente codieren (und damit: kapseln), die, in ihrer Vereinzelung betrachtet, eigentliche Differential-Elemente der Ausgangsfläche verkörpern. Die Ausgangs-shape wird als eine Art virtuelle Matrix für das extrahierende Generieren vieler, differenziell variabler Instanzen daraus gehandhabt. Mit diesen Differential-Elementen kann nun symbolisch „artikuliert“ werden. Man kann sich das ganz plastisch vorstellen: architektonisches Artikulieren kann über rhetorische Stilmittel, wie in der Sprache auch, den Satz einer Aussage auf unterschiedliche Weise gewichten und ausdrücken. In Dillenburgers Beispielen wäre der Satz der Aussage, den er in diesen Modellen auf unterschiedliche Weise zu artikulieren lernt, die Minimalkonstruktion von Hängemodellen. Es zeigt sich hier, in diesem Spiel mit figürlichem Ausdruck, ein Potential von grammatikalisch-regelmässigem Verfahren mit Formen, welches über die analytisch-strukturalistischen Anwendungen hinausweist wie sie ursprünglich von Stiny und Gips[1] vorgesehen, und insbesondere von William Mitchell weiter radikalisiert worden sind[2].
© Benjamin Dillenburger 2011, www.benjamin-dillenburger.com.
[1] George Stiny, James Gips (1972), Shape Grammars and the Generative Specification of Painting and Sculpture. In: Information Processing 71, pp. 1460–1465. North-Holland Publishing Company.
[2] William Mitchell (1990). The Logic of Architecture. MIT Press, London.
This post continues a series in the category Architectonic Articulations – The Stanzaic Structure of Genuinely Procedural Shapes
Pingback: architectonic articulation – the stanzaic structure of genuinely procedural shapes | monas oikos nomos